Er will keine Entscheidung treffen

(in einem chinesisch-deutschen Joint Venture)

Situation:

Herr Lang arbeitet bei einem großen deutschen Konzern. Seit einiger Zeit macht er bei einem chinesischen Projekt mit. Er ist häufig frustriert wegen seiner chinesischen Kollegen. Da sind so viele Dinge, die er nicht versteht und auch nicht plausibel findet. Er erzählt ein Ereignis, das er vor einigen Wochen erlebt hat.

Herr Zhao ist der Leiter vom Kundendienst. Er sollte entscheiden, welche Menge an Ersatzteilen er dieses Jahr bestellen möchte, damit die chinesischen Kunden die Serviceleistungen so schnell wie möglich erhalten können. Bei der Telefonkonferenz sagt er zu, dass er am nächsten Tag bestellen wird. Am Tag darauf hat er sich jedoch wieder anders geäußert: Es werde doch noch ca. zwei Wochen dauern, bis er eine Entscheidung treffen kann, da er erst alle Abteilungsleiter aus Einkauf, Logistik, Controlling usw. fragen müsse. Herr Lang ist deswegen sehr enttäuscht. „Es kann doch nicht wahr sein: Ein Leiter kann nicht mit dieser kleinen Entscheidung fertig werden. Es geht ja nicht um ein Budget von mehreren Millionen Euro, sondern um 3000 Euro. Und ein chinesischer Abteilungsleiter kann sogar das nicht entscheiden?“

Zwar hat Herr Zhao ihm bei einem Telefonat dargestellt, dass er so vorsichtig ist, um keine Fehlentscheidung zu treffen. Herr Lang kann das trotzdem nicht nachvollziehen. Zwei Wochen später kommt die Entscheidung aus China: „Wir bestellen nur just-in-time. Wenn wir sie brauchen, dann lassen wir uns die Teile aus Deutschland liefern.“

„Ja super, dann müssen die Kunden drei Wochen auf ihre Teile warten. Das darf doch nicht wahr sein. Sie haben ihren eigenen Hals erstmal gerettet, für die Abteilung gibt es kein Risiko. Aber für das gesamte Unternehmen ist das natürlich sehr schlecht, da sich die Kundenzufriedenheit dadurch verschlechtern wird. Wieso können meine chinesische Kollegen nicht für das gesamte Unternehmen denken? Wieso haben sie Angst, die Verantwortung dafür zu übernehmen? Es wird doch richtig teuer für das Unternehmen, wenn später die Teile per Flugzeug aus Deutschland so schnell wie möglich geliefert werden müssen. Es wird sogar noch schlimmer, wenn die Kunden damit unzufrieden sind und in der Zukunft zur Konkurrenz gehen würden. Verstehen Chinesen diese Kostenkalkulation nicht?“ So beschwert sich Herr Lang und geht zu seinem chinesischen Coach, um Rat zu bekommen.

 

Teaching Notes:

 Stichwörter:

Wahrnehmung von Zuständigkeit, Macht, Verantwortungsbewusstsein, Risikoverteilung durch Einbeziehen von mehreren Beteiligten, Identifikation mit dem gesamten Unternehmen oder mit dem engen gebundenen Umfeld, Innere Gruppe vs. äußere Gruppe, kurzfristige vs. Langfristige Orientierung

 Fragen zur Fallbearbeitung

  1. Beschreiben Sie die interkulturelle Konfliktsituation und fassen Sie die zentralen Problemfelder zusammen.
  2. Wo könnte Herr Lang „den Hebel ansetzen“?
  3. Inwiefern könnte eine bewusste positive Unternehmenskultur als Instrument Entspannung und Lösungsansätze bringen?

 

Analyse:

Herr Zhao hat durch sein Verhalten gezeigt, dass er keine Verantwortung für diese Entscheidung übernehmen möchte. Daher fragt er alle Kollegen, die von dieser Entscheidung irgendwie betroffen sind. Diese werden zwar nahezu allen Vorschlägen unkritisch zustimmen. Herr Zhao könnte aber in der Zukunft, falls ein Problem auftritt, sich auf diese Zustimmung (bzw. dem Nicht-Widerspruch) der befragten Kollegen berufen.

Chinesische Führungskräfte sind sehr machtorientiert. Für jede Entscheidung sollte Herr Zhao nach seiner Meinung gefragt werden. Er sollte derjenige sein, der die endgültige Entscheidung trifft und nicht einer seiner Mitarbeiter. Aber sobald dieser Entschluss riskant wird, verteilt er dieses Wagnis auf mehre Beteiligte.

Die Chinesen haben dann ‚gemeinsam’ eine Entscheidung getroffen, welche für die Abteilung kein Risiko darstellt, aber für das gesamte Unternehmen schlecht ist. Die Deutschen werden als äußere Gruppe betrachtet. Daher wurde bei dieser Entscheidung nur der Vorteil für die chinesische Seite gesehen. Die Teile bleiben in Deutschland. Wenn sie dringend gebraucht werden, sollte die deutsche Firma den Transport per Luft bezahlen.

In diesem Fall sind die Chinesen sehr kurzfristig orientiert und haben mögliche Folgen nicht ins Auge gefasst. „Wer weiß, ob ich in fünf Jahre noch in diesem Unternehmen arbeite? Aber innerhalb dieser Zeit sollte ich kein Problem wegen einer Fehlbestellung bekommen. Was in fünf Jahren kommt, hat dann schon nichts mehr mit mir zu tun.“ In einem Joint Venture findet man ganz häufig wenig Identifikation mit dem Unternehmen. Chinesische Führungskräfte und Mitarbeiter sind oft aus dem chinesischen Mutterkonzern, mit dem sie sich häufig noch identifizieren. Manche von ihnen behalten dort noch ihr Büro oder eine Teilbeschäftigung. In diesem Fall zeigt sich das ganz eindeutig.

 

Welche Unterschiede gibt es in dieser Situation zwischen Deutschland und China?

 

Treffen kleiner Entscheidungen Deutschland China
Fachliche Überlegungen und Analysen Vielseitig, mit detaillierten Kalkulationen Kaum, daher sind sie oft mit hohem Risiko verbunden, da das Know-how und das Wissen noch nicht so verbreitet ist
Wer Der Zuständige

(häufig Fachspezialist oder Projektmitarbeiter)

meistens Führungskräfte
Prozesse Sobald der Zuständige das Wissen für diese Entscheidung besitzt oder nach fachlichen Analysen kann er selbst entscheiden. Der Fachspezialist fragt seinen Vorgesetzten. Falls dieser die Entscheidung selbst nicht treffen will, fragt er seine Kollegen, damit das Risiko verteilt wird.
Charakter der Entscheidung Orientiert sich am gesamten Unternehmen Orientiert sich an den eigenen Vorteilen oder an der kleinen Gruppe

 

Lösungsansätze für die Organisation:

 

  1. Das Problem legt nicht bei Herrn Lang, sondern an der gesamten Unternehmenskultur.
  2. Diese und die Identifikation mit dem Unternehmen sollten durch Workshops verbessert werden. Die Mitarbeiter und Führungskräfte sollten sich mit dem Unternehmen identifizieren können. Eine positive Kultur – selbst nach Fehlern suchen, statt nach dem Verursacher – sollte im Unternehmen eingeführt werden.
  3. Mitarbeitern und Führungskräften sollten Workshops für Kompetenzentwicklung – z.B. selbstständig Entscheidungen zu treffen – angeboten werden.

 

Lösungsansätze für die deutsche Beteiligten: Wie kann Herr Lang in der Zukunft besser mit seinen chinesischen Kollegen auskommen und sie zu einer vernünftigen Entscheidung führen?

 

  1. Herr Lang könnte ein Gespräch mit Herrn Zhao führen. Er sollte zuerst seine Situation darstellen und persönliche Herausforderungen schildern. Damit baut er einen guten und neutralen Basis für das weitere Gespräch. Er kritisiert keinen, sondern er sucht eine Lösung für seine Herausforderungen. Dann sollte er die Meinungen und Vorschläge von Herrn Zhao hören. Somit stellt er sich in der Rolle der Lösungsuchender. Der chinesische Kollege genießt diese Rolle als Lösungsanbieter. Dann wird Herr Zhao vermutlich
  2. Die Voraussetzung für ein erfolgreiches Gespräch ist eine gute Arbeitsbeziehung zwischen den beiden Herren.